Text zur Markthalle 9 von Bizim Kiez

Bizim Kiez hat eine längere Stellungnahme zur Markthalle 9 auf ihrem Blog veröffentlicht, die wir hier wiedergeben.

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Die Markhalle Neun – Konflikt mit der Nachbarschaft und ein Versuch zu einer Neuorientierung

Versuch einer nachbarschaftlichen Position

»Ein Mikrokosmos von großer Vielfalt«?

Mitten in Kreuzberg – genauer im Zentrum der Luisenstadt – liegt die Markhalle Neun. Sie ist ein traditionsreiches Gebäude mit bewegter Geschichte. Vor rund 10 Jahren gab es einen wirtschaftlichen Neustart, nachdem die Halle zuvor weitgehend heruntergewirtschaftet wurde und nur noch die Discounter-Märkte kik und Aldi nennenswerten Betrieb hatten. Mit der Idee einer echten ›Markthalle‹ hatte das nichts mehr zu tun. Dann wurde ein Konzeptverfahren ausgerufen: Betreiben sollten die Markthalle zukünftig diejenigen, die das beste Konzept dafür vorlegen konnten, und nicht die, die am meisten für die Halle zu bezahlen bereit waren. In diesem Verfahren wurden auch viele Nachbar*innen aktiv und etliche Beteilungsformate umgesetzt. Der Zuschlag für nur 1,1 Mio € ging 2011 an ein dynamisches Jungunternehmer-Trio (Nikolaus Driessen, Florian Niedermeier und Bernd Maier – ergänzt durch den Immobilienunternehmer Dirk Rahlfs, heute ersetzt durch den Immobilienrechtler Bernhard Lill), deren Konzept auch von einer Anwohner*inneninitiative unterstützt wurde.

Angekündigt wurde darin, eine »Stadt in der Stadt: ein Mikrokosmos von großer Vielfalt« sollte entstehen »durch das unmittelbare Aufeinanderprallen unterschiedlichster Menschen und Waren«. Ein »Ort der Begegnung und des Verhandelns« und damit ein »wichtiger öffentlicher Raum« sollte es werden. Selbstredend war dazu die »enge Einbindung der Nachbarschaft (…) ein zentrales Anliegen des Konzepts«, hieß es 2011. Eine »Halle für alle« sollte es also werden, wie es die Anwohner*innen in den langen Beteiligungsprozessen gefordert hatten. Dabei wurde besonders betont, dass die einbezogenen Händler*innen mit ihrem Produktangebot eine klare Ausrichtung auf die Nachbarschaft haben sollten. Angestrebt wurde eine wachsende kleinteilige Nutzung (also mit echten Markständen). Die Discounter sollten nach unterschiedlich langen Übergangsfristen und Laufzeiten raus. Außerdem wollte das Team einen Beitrag zur Ernährungswende leisten und die Anbieter*innen so gut es geht auf regionale, nachhaltige und ökologische, jedenfalls nicht-industrielle Lebensmittelproduktion ausrichten. So weit, so schön – damals so auch mit freudiger Erwartung von großen Teilen der Nachbarschaft begrüßt.

Events und Spektakel

Foto: Dirk Ingo Franke (Wikipedia) >©-Lizenz

Die Halle ist natürlich seit damals viel lebendiger geworden, aber dennoch ist bei vielen inzwischen Ernüchterung eingetreten. Die Markhalle Neun wird heute zunehmend als ein wesentlicher Gentrifizierungsbeschleuniger im Kiez empfunden. Die Sonderveranstaltungen wie der „Streetfood Thursday“ und verschiedene Food-Events, die in der Regel Eintritt kosten, häufen sich und ziehen sehr viel Publikum, das sich eindeutig eher überregional bis international zusammensetzt. Man hört jetzt kein Türkisch mehr an den Tresen der Händler*innen, sondern hauptsächlich das Wort ›amazing‹, und die gereichten schicken Köstlichkeiten auf Papptellern werden überall für die persönlichen Food-Porn Kanäle abfotografiert > #markthalleneun. Regelmäßig finden geschlossene Abendveranstaltungen für Unternehmen, Verbände und Manager*innen statt. Anwohner*innen, die während solcher Spektakel einfach nur bei Aldi einkaufen wollen, werden dann vom Security-Personal durch einen Korridor dorthin geleitet. Tourist*innen werden mit Bussen zu den überlaufenen öffentlichen Events vor die Halle gefahren. Im Sommer sind die Streetfood Thursdays teils so gut besucht, dass rund um die Halle die Menschenmassen alle Straßen verstopfen – mit entsprechenden wöchentlichen Belastungen für Anwohner*innen.

Kein Zweifel – diese Events ›funktionieren‹ richtig gut. Sie werden in jedem Touri-Portal mit Top-Bewertungen empfohlen. Die Markhalle Neun ist schick, hipp und hat auch noch einen grünen Awarness-Anstrich. Mit anderen Worten, hier hat eine enorme ›Aufwertung‹ stattgefunden. Das wertet zum einen die Markthalle selbst als Immobilie auf (was auch Unternehmenszweck der GmbH der Betreiber ist), und das wird zum anderen folgerichtig in den Immobilienportfolios angepriesen, wenn im Umfeld Wohnungen oder Häuser verkauft werden sollen. Selbstverständlich wirkt sich das so auch auf die Mieten der Umgebung aus, die kräftig angehoben werden können.
Gleichzeitig ist ein ehemaliger ›Kiez-Laden‹ in der Außenfront der Halle – der Schreibwarenladen in der Eisenbahnstraße – verschwunden und stattdessen ist dort nun ein schickes Café, das von den Hallenbetreibern selbst bewirtschaftet wird. Auch das Traditions- und Kult-Weltrestaurant Markhalle haben sie übernommen, ehemalige Wohnungen im Gebäude sind inzwischen als Büros genutzt, auch an anderen Miet-Objekten im Kiez zeigten sie Interesse. Die Markhallen-Betreiber breiten sich aus und es entsteht bei vielen das Gefühl, sie übernähmen langsam den Kiez.

Eine Frage des Preises

Dies stößt den Menschen gewaltig auf, die sich vor einigen Jahren von einem Konzept haben überzeugen lassen, das versprach, die Halle zu »einem zentralen Treffpunk der Nachbarschaft« zu machen. Es war diese Nachbarschaft, die überhaupt erst dazu beigetragen hat, dass dieses Betreiber-Team den Zuschlag bekam. Die Halle ist heute eben nicht der Ort geworden, an dem sich zwischen Marktständen »Menschen jeden Alters, aller sozialer Schichten und Nationalitäten« tummeln (so stand es im Konzept). Viele Menschen fühlen sich in der Halle längst nicht mehr wohl, fühlen sich nicht mehr zuhause und fehl am Platze. Im Neuen Deutschland erschien schon 2013 ein Artikel mit der Überschrift Die geteilte Markthalle – Teure Bio- und Regionalprodukte schließen arme Menschen in Kreuzberg vom Konsum aus‹.

Ganz wesentlich liegt die Ausgrenzung tatsächlich am Preisniveau und auch am Warensortiment. Wer in die Markhalle zum regelmäßigen Einkaufen geht, gehört tendenziell zu den Besserverdienenden, den besser Ausgebildeten, zu den Menschen, die bereit und in der Lage sind, nach Nachhaltigkeits-Kriterien bewusst höhere Preise für Essen zu bezahlen. Wer die Events besucht, möchte was Außergewöhnliches erleben und sich selbst im Umfeld der In-Location inszenieren.
Viele von denen, die nebenan wohnen, wollen weder das eine noch das andere. Sie wollen den Ort, der ihnen versprochen wurde: Eine Halle, in der sie alle ihre Bedarfe an Lebensmittel decken können – in Vielfalt unter einem Dach. Und vielleicht dabei Nachbar*innen auf einen Schnack treffen, sich mal umgucken, einen Kaffee oder auch ein Bier an einem überdachten, quasi-öffentlichen Ort trinken können (und womöglich dabei einen Barbecue-Smoker aus Tennesse kennenlernen, oder einen Touristen – warum nicht).

Tiefkühlpizza unerwünscht

Dies schien zumindest so lange noch möglich, wie Aldi eine Filiale in der Halle hat. Die ganze Eventisierung und Aufwertung der Halle konnten viele noch hinnehmen, solange der Discounter als gewichtiger ›Störfaktor‹ gegen die Homogenisierung des Publikums auch echte Billig-Produkte anbot – ja, samt Tiefkühlpizza, Heringsfilet in der Dose und Schmelzkäse. Doch jetzt haben die Markhallen-Betreiber ihrem Discounter-Mieter frühzeitig gekündigt, weshalb sie auch vertragsgemäß eine Entschädigung an den Konzern bezahlen müssen. Statt Aldi soll nun ein dm-Markt rein, weil dessen Sortiment besser zum sonstigen Angebot der Händler*innen in der Halle passen würde und es im Kiez eine tatsächliche Unterversorgung mit Drogerie-Märkten gibt. Dass der dm sicherlich bereit ist, eine hohe Miete zu zahlen, wird ausgespart.

Die Betreiber argumentieren, dass sich der Verkauf von Tiefkühlpizza und anderem ›Bad Taste Food‹ nicht mit der Ausrichtung der Halle und dem Streben nach ›nachhaltigem Essen‹ verbinden lasse. Tatsächlich wandelt sich aber das Angebot auch bei Aldi immer mehr in eine andere Richtung: Einerseits gibt es mehr Bio-Produkte (auf die eben gerade Menschen mit wenig Geld zurückgreifen, wenn sie sich trotz knapper Kasse ›bewusster‹ ernähren wollen), und andererseits Convenience-Food (also fertig zubereitete, abgepackte Speisen), wie z.B. Sushi und Smoothies. Es scheint also viel wahrscheinlicher, dass Aldi zunehmend zu einer Billig-Konkurrenz bei Produkten avanciert, die denen an den Markständen eher immer ähnlicher werden. Außerdem wirkt es dann doch recht anmaßend so zu agieren‚ dass Menschen, die eben auch mal Tiefkühlpizza für ihre 5-köpfige Familie kaufen wollen, nicht in der Halle erwünscht sind. Da fühlen sich viele eben auch zu Recht abgewertet und ausgegrenzt.

Weiter wird argumentiert, dass von Anfang an in ihrem Konzept vorgesehen war, die großen Ankermieter abzubauen, um schließlich die ganze Halle kleinteilig zu bewirtschaften. Doch warum wird dann nun mit einem frischen Mietvertrag ein dm-Mark reingeholt? Das bedeutet doch, dass die Fläche noch viel länger eben nicht kleinteilig genutzt wird. Das scheint offenbar entgegen anders lautender Behauptungen nicht mehr geplant.

Und dazu kommt noch eine andere findige Idee ins Spiel: Über der gesamten Verkaufsfläche von dm soll eine zweite Etage unter das Hallendach eingezogen werden. Dort oben soll dann ein „House of Food“ eingerichtet werden. Das ist eine mit 3,2 Mio. Euro aus öffentlichen Kassen geförderte Bildungseinrichtung für Köchinnen und Köche in Großküchen. Dem Anspruch nach soll dort nach Kopenhagener Vorbild vermittelt werden, wie auch im großen Maßstab eine gesündere, ökologischere und nachhaltigere Ernährung umgesetzt werden kann, ohne Preissteigerung und im Verbund mit regionalen Erzeuger*innen. Für die Hallennutzung heißt das zunächst, dass die Betreiber mit dem Austausch von Aldi zu dm das Kunststück umsetzen wollen, auf der Fläche von einem ›Ankermieter‹ gleich zwei unterzubringen. Das mag wirtschaftlich intelligent sein, aber es kann ganz sicher nicht damit begründet werden, dass man die Halle gerne bald in Gänze kleinteilig betreiben wollte.

Viele Nachbar*innen fürchten nun auf Basis ihrer Erfahrungen mit der Event-Kultur der Halle, dass das an sich so sinnvolle Schulungszentrum für Gemeinschaftsverpflegung an diesem Ort  als Trend-Leuchtturmprojekt auch nur weitere Schaulustige, noch mehr Spektakel und einen Ausbau der Markthalle als Akteur nach sich zöge. Die Nachbarschaft käme dabei nur noch als Lokalkolorit vor.

Der Protest will Aldi behalten

Im Umfeld der Markhalle haben sich nun Nachbar*innen zu einer Initiative zusammengetan, die der Entwicklung ein „Wir haben es satt!“ entgegensetzen. Die Aldi-Kündigung war dabei der berühmte Tropfen, der für viele das Fass zum Überlaufen brachte. Zunächst ist die Initiative klar und einfach mit der Forderung angetreten (auch mit einer Petition), dass der Aldi unter dem Dach der Markthalle bleiben müsse. Die Argumente dafür sind, insbesondere wenig mobilen und älteren Menschen preisgünstige Nahversorgung zu ermöglichen, für alle Menschen Zugang zum sozialen Ort Markthalle zu gewährleisten und den Ort der Begegnung im Kiez zu erhalten (denn zu Aldi gehen wirklich die »unterschiedlichsten Leute«, wie es im 2011-Hallenkonzept benannt wurde). Die Halle mit Aldi also als klares Gegenmodell zu einer durch Gentrifizierungsprozesse beförderten soziale Segregation in der Stadt.

Doch es gab auch kritische Stimmen und Unmut bezüglich des Slogans »Aldi bleibt«. Da wurde doch ein Protest fragwürdig in Kombination mit dem augenscheinlichen Befürworten eines Großkonzerns gebracht, der im großen Stil seine Marktmacht missbraucht, um Einkaufspreise zu drücken und Rendite zu erwirtschaften auf Kosten von Landwirt*innen, Arbeitskräften in der globalen Lebensmittelproduktion und der Umwelt. Dagegen erscheint dann doch das Pochen auf regionale Ausrichtung und Förderung kleiner Gewerben sympathischer als der Kampf für eine Filiale eines Konzerns, der patriarchal von einer Milliardärsfamilie geleitet wird. Dieses Dilemma im Protest ist allerdings durchaus Teil des nachbarschaftlichen Aufbegehrens, welches in der Presse sogar einigermaßen widergespiegelt wird. (Siehe Bericht in BZ »Wenn Aldi weg ist, wo kaufen dann die Leute mit kleiner Rente ein?«.)

Es wurde in den Diskussionen immer deutlicher – und das ist auch das Ergebnis der Diskussion in unserer Initiative Bizim Kiez – , dass die Aldi-Kündigung der Moment ist, in dem Vielen der Kragen geplatzt ist: Jetzt ist der Zeitpunkt, an dem eine Umkehr der Entwicklungen der Markthalle eingefordert werden muss. Eine »Kiezmarkthalle für alle statt Event-Halle«, das hat sich bei einem Treffen von rund 70 Nachbar*innen am 17.3.2019 als der gemeinsame Nenner einer neu gegründeten Protestinitiative herauskristallisiert – umzusetzen kurz- und vielleicht mittelfristig wohl oder übel mit Aldi, langfristig am besten mit Akteuren, die statt dicker Profite das Gemeinwohl im Blick haben.

Jedenfalls ist nicht hinzunehmen, dass die Markthallen-Betreiber sich zwar als verantwortlich in Sachen nachhaltiger Ernährung und lokaler Entwicklung darstellen, aber andererseits die lokale Verantwortung für die Verteuerung des Stadtviertels, eben auch durch die eigene Produktpalette, negieren können. Niemand darf davor die Augen verschließen, dass die jetzige Markthalle ohne Aldi eben kein Ort ist, an dem alle ihre Lebensmittel kaufen können (sei es wegen des Preises oder des Sortiments) – und es vielleicht auch nicht wollen, weil sie sich in einer Gourmet-Atmosphäre nicht mehr wohl oder erwünscht fühlen. Und nein, das ist nicht irgendwie der Lauf der Dinge, sondern Verdrängung (siehe Artikel in Der Tagesspiegel: »Erst muss der Aldi weg – dann werden wir verdrängt«).

Ernährungswende darf nicht zu Verdrängung führen

Wenn das Konzept der Hallenbetreiber verbietet, dass Aldi hier bleiben kann und gleichzeitig verhindert, dass andere günstige und vielfältige Lebensmittelstände in der Halle verkaufen können, wie es z.B. auf dem Hermannplatz oder auf dem Markt am Maybachufer funktioniert, dann ist das ein ausgrenzendes Konzept. Es reicht auch nicht, an zwei Ständen einzelne Gemüsesorten, die gerade Saison haben, günstig zu verkaufen, und sich zur überheblichen Aussage hinreißen zu lassen, »wer sich auskennt und mit der Saison kocht, kann sogar günstiger einkaufen als im Supermarkt.« Es muss schon möglich sein, den wöchentlichen Familieneinkauf einigermaßen günstig und gesund umzusetzen. Andernfalls entscheiden diejenigen, die so ein striktes Konzept propagieren, auch bewusst, bestimmte Menschen – arme Menschen – nicht in der Halle haben zu wollen. Und müssen sich darum auch mit dem harten Vorwurf von Klassismus in Ökoverkleidung auseinandersetzen.

Bizim Kiez will eine andere Entwicklung der Markthalle Neun

Wir sehen das Team der Markthalle Neun in der Pflicht, die Entwicklung jetzt radikal umzusteuern. Wir wollen ein Modell mit Ausrichtung auf das Gemeinwohl, in dem alle teilhaben und sich auch ›zuhause‹ fühlen können. Dazu gehören Menschen, die auf das Niedrig-Preissegment angewiesen sind ebenso wie welche, die nicht auf trendige Sandwich-Kreationen stehen. Es darf darum nicht die Wirtschaftlichkeit im Vordergrund stehen, sondern die Sozialverträglichkeit gegenüber der Nachbarschaft und auch gegenüber den Händler*innen (mit Ständen in der Halle). Denn auch bei denen haben sich viele in den letzten Jahren aus der Halle verabschiedet, oder gar ganz aufgegeben.

Nicht auf Kosten einer Segregation

Zu Recht kritisiert das Betreiber-Trio, dass ein Discounter wie Aldi die wahren Kosten seiner Lebensmittel auslagere, d.h. »auf den Plantagen und Feldern, in Schlachthöfen und Fabriken« der echte Preis der Lebensmittel gezahlt würde. Ihr Modell macht allerdings im Prinzip das Gleiche: Im Betrieb der Markthalle werden Profite privatisiert, aber die Kosten – ob Lärm, Müll, Verkehr, Gentrifizierungsdruck, Verdrängung –  der Nachbarschaft aufgebürdet, ohne dass sie Mitspracherechte hätte.
Und: Das Mehr an Geld, das den Erzeuger*innen für die höheren Kosten der nachhaltigen Produktion (z.B. durch Verzicht auf Pestizide, durch würdige Löhne oder Orientierung am  Tierwohl) zusteht, darf nicht überproportional bei den Menschen mit wenig Einkommen abkassiert werden. Doch das passiert faktisch, wenn ein Mensch mit wenig Einkommen genauso viel für das handgemachte Biobrot zahlt, wie einer mit viel Einkommen. Klar ist: Ein Hallensortiment, das diesen Menschen kein alternatives Angebot machen will, verdrängt Ärmere aus der Halle.

Das unterstützenswerte Ziel einer Ernährungswende darf nicht auf Kosten einer Segregation umgesetzt werden: Eine Ernährungswende ist sozial gerecht, oder sie ist keine. Darum kann und muss eine Markthalle gerade in Kreuzberg auch ein Ort sein, an dem genau diese Leerstellen in der bisherigen (deutschen) Diskussion und Praxis um eine Ernährungswende ganz praktisch gefüllt werden sollten.

Dafür muss das gegenwärtige Konzept der Markthalle vom Kopf auf die Füße gestellt werden: demokratische Teilhabe und Gemeinwohlorientierung gehören in seinen Kern.

Eine andere Markthalle ist möglich

Erst von da aus kann mit Ideen und kooperativen Modellen experimentiert werden, die den Nahrungs-Erzeuger*innen und Lebensmittel-Handwerker*innen und den sozial diversen Verbraucher*innen in der Nachbarschaft im Sinne einer Ernährungswende gerecht werden. So kann über Ausgleichssysteme nachgedacht werden, z.B. über Sozial-Ermäßigungen, und über ein (gestaffeltes) Sozialmodell zur Querfinanzierung von Standmieten. Aber da geht noch mehr: Ein kooperativer Supermarkt? Eine Halle, an der Nachbarschaft und Produzierende Anteile halten? Eine Art Lebensmittel-Stützpunkt, an dem u.a. das Modell Solidarische Landwirtschaft experimentell auf eine ganze Nachbarschaft hochskaliert wird?

Wenn es Ernst gemeint ist, mit der »Halle für alle«, dann sollte auch die Eigentumsform sozialisiert werden. Warum kann die Halle nicht in der Form einer Genossenschaft im Sinne einer Solidarwirtschaft betrieben werden? Die Halle könnte über das Community Land Trust-Modell auf eine neue Basis gestellt werden. Der Boden würde vom Gebäude getrennt, und über einen Erbpachtvertrag würde dauerhaft die Verpflichtung zur Gemeinwohlorientierung festgeschrieben, bei überschaubarem Finanzierungsbedarf und bei Einbindung der Nachbarschaft.

Auch das House of Food übrigens, wird eine nachhaltige Wirkung nur entfalten, wenn es nicht von einem privaten, sondern von einem klar gemeinwohlorientierten kommunalen Träger oder einer Stiftung umgesetzt wird. Die Verquickung mit Profit- und Marktmachtinteressen in der Markthalle Neun machen diesen Standort jedenfalls völlig ungeeignet für das Projekt.

Zusammengefasst: Unser Impuls an die Betreiber der Markhalle

Wir erwarten von den Betreibern, dass sie dafür Sorge tragen, dass in der Markhalle Neun ein Versorgungsangebot vorgehalten wird,

  • das auch für Anwohnende mit wenig Geld leistbar ist (und dies nicht zu bemessen an ihrer ‚Haltung‘ bezüglich der Lebensmittelauswahl, wie die Betreiber verlauten ließen, sondern ganz handfest bezüglich des Verhältnisses Warenkorb – Einkommen)
  • das für eine diverse und auch kulturell diverse Nachbarschaft attraktiv ist, d.h. vielfältig in Sortiment und Preisgestaltung und auch nicht homogen in der Selbstpräsentation der Anbieter*innen, in der Ästhetik oder der Ansprache der Kund*innen. Wir erwarten ein Bewusstsein dafür, dass es eben auch die ‚feinen Unterschiede‘ sind, die Menschen vor Orten zurückweichen lässt, an denen sie sich fremd oder nicht mehr gewollt fühlen (und es aufgrund mangelnder Kaufkraft auch nicht sind) – was in der Konsequenz nichts anderes ist, als sie von gesellschaftlichen Orten zu verdrängen und städtische Segregation zu befördern.

Weiter erwarten wir, dass die Betreiber dafür Sorge tragen,

  • dass die Halle, wie 2011 angekündigt, zu einem offenen sozialen Ort wird, der die Urbanität (mit all ihren wechselseitigen ‚Störungen‘, Irritationen und Fremdheitserfahrungen) und damit die soziale Vielfalt der Stadt und der Nachbarschaft spiegelt und die Begegnung ermöglicht.
  • dass die kulturelle Homogenisierung (als Ausdruck finanzieller Verhältnisse) durch und für ein zahlungskräftiges Feinschmeckerpublikum durchbrochen wird – was bisher faktisch durch die Existenz von Aldi, und zunehmend eben nur durch Aldi, als Einkaufsziel noch ansatzweise gewährleistet war.

Und das heißt auch,

  • dass Schluss gemacht wird, damit, im Betrieb der Markthalle Profite zu privatisieren, aber die Kosten (Lärm, Müll, Verkehr, Gentrifizierungsdruck, Verdrängung) der Nachbarschaft aufzubürden, ohne dass sie Mitspracherechte hätte.
  • dass ohne Beteiligung der Nachbarschaft nichts geht, erst recht nicht, wenn sie wie hier Teil des Konzepts ist, dank dessen die Halle überhaupt zu einem Schnäppchenpreis an die Betreiber vergeben wurde; hier lässt sich darum nicht einfach mit ›betriebswirtschaftlicher Rationalität‹ und Autonomie argumentieren.
  • dass die Interessen, Erfahrungen und Visionen der Nahrungs-Erzeuger*innen und Lebensmittel-Handwerker*innen, die momentan enorme Standmieten bezahlen müssen, in die Diskussion eingebracht und gehört werden müssen.

Außerdem heißt es anzuerkennen,

  • dass die Halle bislang als Gentrifizierungsmotor im Kiez wirkt, und darum seitens ethisch handelnder Betreiber alle denkbaren Register zu ziehen wären, dass dies aufhört.
  • dass die oft zitierten realen Kosten von Nahrungsmitteln, die den Nahrungs-Erzeuger*innen und Lebensmittel-Handwerker*innen zustehen, nicht überproportional den Menschen mit wenig Einkommen in Rechnung aufgebürdet werden dürfen.
  • dass eine echte Ernährungswende sozial gerecht sein muss, oder sie ist keine.

Sollte das alles nicht zu gewährleisten sein, muss das Konzept der Markthalle als gescheitert betrachtet werden, und wir fordern dann einen demokratisch gestalteten Prozess der Überführung in ein kommunales oder genossenschaftliches Modell mit einem neuen sozialverträglichen Konzept:

 

 

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